Workshopgeschichten

Der verständnisvollen Berufserziehung
gewidmet

Vor mir liegt ein braunes Büchlein, Format 10 x 16,5 cm, mit dem Namen «Maximen zur Berufserziehung im Betrieb», 92 Seiten. 1959. Geschrieben von Erwin Jeangros, Vorsteher des kantonalen Amtes für berufliche Ausbildung in Bern und herausgegeben durch die Deutschschweizerische Lehrlingsämterkonferenz.

«Das ist überflüssige Schulmeisterei! Seit Jahrtausenden steht, geht und läuft der Mensch. Die Alten haben es vorgemacht, die Jungen tun es ihnen nach und lernen ohne Wissenschaft und Schulmeisterei zu stehen, gehen und laufen.»

Ein Meister von altem Schrot und Korn, über zwanzig Jahre zuvor.

«In der vorindustriellen Wirtschaftsepoche mit ihren traditionellen Handwerksbetrieben lebten jeweils die Meistersfamilien mit ihren Gesellen und Lehrlingen in einer festgefügten Lebens- und Arbeitsordnung zusammen. Am Vormachen des Meisters, im Nach- und Mitmachen lebte sich der Lehrling in die Berufsarbeit ein.
Durch die technisch-industrielle Wirtschaft wandelte sich notwendigerweise auch die Ausbildung. Zu seiner Bewältigung wurde ein übergreifendes technologisches Wissen notwendig, um die Materialien, Arbeitsverfahren und die komplizierten und gefährlichen Einrichtungen zu verstehen und zu beherrschen. Der Lehrling soll nicht mehr nur Handlanger sein sondern darf durch eigene Erfahrung ein inneres Bild und sein eigenes Können erfahren. Das Übertragen von Zielen und Verantwortlichkeiten motiviert ihn die Arbeit selberdenkend zu übernehmen. Bei jeder Arbeit ist der ganze Mensch tätig und die Haltung der Gesamtpersönlichkeit entscheidet auf die Dauer über die Güte der Leistung.»

Wie er’s können lernt

Dieses Büchlein imponiert mir unglaublich, weil die wohlwollende Art beweist, dass das Wissen um Empathie und Achtsamkeit keine neue Erkenntnis ist: «Der Lehrling tritt willig in die Lehre, um seinen Berufs zu lernen. Die Arbeiten sollen in diese Interessensrichtung anschliessen. Sonst zersplittert sein Interesse und seine Arbeits- und Berufsfreude erlahmen.»
Das heisst aber nicht, dass wir dem Lernenden alles servieren sollen. Schon Sokrates sagte: ein eigener Schritt ist mehr Wert als zehn unterstützende Schritte.
«Der Lehrmeister gehe aber unmerklich neben ihm her. Er nimmt ihm keine Schwierigkeiten ab, dieser muss selbst erfahren, was er kann, was er noch nicht kann und wie er’s können lernt.»

Zwischentitel bringen es auf den Punkt

– «Der erste Lehrtag ist besonders wichtig!»
– «Dem Lehrling gebührt ein eigener Arbeitsplatz!»
– «Vom ersten Lehrtag an Berufsarbeit!»
– «Mit einfachen Arbeiten anfangen, nicht zuviel und nicht zuwenig voraussetzen!»
– «Fehler positiv auswerten!»
– «Jeweils nur eine Arbeitsaufgabe stellen und sie zu Ende führen lassen!»
– «Lern- und Werkfreude wachhalten und steigern!»

Aber, so schön und gut diese Anleitung gemeint ist.

Setz dich mal hin und überlege. Nicht jeder Lernende ist scheu und trägt seinen Kopf zwischen den Schultern oder nickt bei jeder Äusserung des Lehrmeisters. Die Jugend ist widerspenstig, bock oder überbordert mit Ihren Ansprüchen. Sobald eine Aufgabe herausfordert, ist es zu mühsam und uncool.

Kennst du den Typ «Energiesparer»? Jeder Aufwand legt auf die Goldwaage. Er bewegt sich nur wenn er (in seinen Augen angemessen) dafür entlöhnt wird. Zuhause jammert er, dass er keine Zeit für sich hat.

Kennst du den Typ «Ich-bin-voll-auf-deiner-Augenhöhe». Sie setzt sich mitten in meine Unterlagen an meinem Platz, verschiebt Gerätschaften und Papier und fragt mich was die herumliegenden Blätter und Bücher sollen. Moment mal, in schaffe hier!?!

Und kennst du den Typ «Ich-versteh-nicht-was-du-willst». Wenn das eine Taktik ist, sich blöd zu stellen, bringt eine Jugendliche mein Blut in Wallung. So verlier ich echt meine Intelligenz. Da kommt definitiv der Punkt, wo ich das Interesse verliere und von den meiner Erachtens interessanten Aufgaben zu den Handlangerarbeiten für sie wechsle.

Im Büchlein steht: «Der Lehrling wird gewöhnt, jede Elementararbeit bis zur Fertigkeit zu üben und sich eine kleine Meisterschaft geben. Jede Arbeit einmal gekonnt und beherrscht, öffnet den Weg in neue Bereiche der Berufswelt.»

«Interesse, Lernfreude und Leistungsbereitschaft bleiben wach. Wer die Technik beherscht, vermag die freien Kräfte zur Werkgestaltung einzusetzen, es stellt sich der persönliche Werkstil ein und damit eine äussere wie innere Bildung der Persönlichkeit.»

Dazu kommt aber es bei den «Energiespar»- und den «Ich-versteh-nicht-was-du-willst»-Typen nicht, weil man sie damit nicht belasten will.

Es macht mir Mut nicht wegzugehen

Das Büchlein «Maximen zur Berufserziehung im Betrieb» weckt mich nun tatsächlich aus dem vergangenen Jahrhundert auf. Es macht mir Mut nicht wegzugehen, sondern mich als selbstbewusste, zufriedene und dankbare Frau wie ein Fels in der Brandung zu zeigen. Mein Umfeld soll mich wahrnehmen, sich vielleicht an mir kratzen. Trotzdem schwinge und bewege mich wie es mir passt. Unerwünschte Verhaltensweisen meines Gegenübers sind nicht meine. Weil ich meine eigenen Diamantenschleifsteine kenne, die Menschen die mich in meiner Intelligenz weiterbringen.